Das Tablett (Rezension)

Moritz Detje hat für seinen bildmächtigen und hintergründigen Text ein außergewöhnliches Szenario erfunden. Es beginnt wie im echten Leben, die großen Fragen werden unzureichend beantwortet, möglicherweise nicht einmal gestellt, wiewohl es der Text verspricht und sich die Antworten auf „sieben länglichen, in weißem Papier – mit überraschend rauer Textur – abgepackten Zuckerportionen“ befinden sollten. Wir sind an einem ganz bestimmten Ort, „der allen und niemandem gehörte, der Ort, den keiner für sich beanspruchte und auf den doch alle Anspruch hatten (…) Geschichten andeutete, ohne sie jemals zu erzählen.“ 

Der Autor entwirft ein perfektes „Abseitig – Sein“ und beginnt im unbewohnten Zimmer 4 eines irischen Bed & Breakfast Hotels, im Fokus ein Tablett mit Tea-Time & Coffee Utensilien, Objekte aus Widersinn und Vergänglichem arrangiert und „für nicht genießbar befunden“. 

Hier sollte man besser nicht sein, suggeriert uns ein erstaunliches Ensemble. Auch nicht in den Zimmern 2 und 3, sie zeigen einen Vorsatz, der zu desaströser Normalität führt, nämlich was Menschen alles so machen: Sitzen, Schauen, Hören, Essen, Bügeln, Boxen … Rückschlüsse werden gezogen, von Händen und Fingern zu Fäusten wird auf ein ganzes Leben geschlossen, Mutmaßungen, das Schicksal betreffend. „Frau Hadar schaute auf ihre Hände. Klavierspielerhände hatte ihre Mutter immer halb scherzend, halb fordernd gesagt.“ Sie „fühlten sich fremd an, zwei eigenwillige Spinnen. Die Vorstellung, sie über ein Klavier krabbeln zu sehen, jagte ihr Angst ein. Sie ballte ihre Hände gerne so lange zu Fäusten, bis das Weiß der Knöchel hervortrat.“

Uns dämmert, im Wahn gibt es keine Zufälle und selten heiteren Irrsinn.

„Sunday Bloody Sunday“ der irischen Band U2 tönt aus dem Radio. Hier gewinnt niemand, auch nicht Herr Park aus Zimmer 3. Sein Lebensglück „funktionierte leider ausschließlich knitterfrei“, so kommt es, dass er mit Frau Mirabeaus Dampfbügeleisen den Fernseher ruiniert, indem er sich in den olympischen Boxkampf – Ochigava gegen Taylor – vehement einmischt. Wir haben 2012, egal, ob jetzt oder später geht es um Kampf, um Krieg. Sind Raum und Zeit doch nicht so solide gebaut, wie wir zu meinen glauben? Schließlich landet Detjes Figurenpersonal im Treppenhaus, beim „Kampf mit offenem Visier“.

Gefühle wie Gesten werden überbordend zu Slapsticks, zu paradoxen Konvulsionen, und wir erfahren, was alles passieren muss, damit einer der Milchzylinder auf dem Tablett im Zimmer 4 umkippt, zu Boden fällt und sich sein Inhalt durch „die Rillen der alten Dielen“ den Weg hinausbahnt, um sich „in aller Stille“ der Hausgemeinschaft überforderter, irrlichtender Menschen anzuschließen. Zurückgeworfen auf die Hintergrundgeräusche eigener strapaziöser Befindlichkeiten, im Clinch mit surrealen Phänomenen und Fantastereien anderer, deren Eskapaden, ahnen wir, was passieren könnte… 

Im Biotop eines Hauses verortet, welches am Ende ein „dramatischer Feuerball“ in Schwingung versetzt, würde Detjes facettenreicher Text auch als Analyse einer Gesellschaft in der Post-Covid-Krise funktionieren.

Margarita Fuchs